- Kult und Propaganda: Die Tempel des Neuen Reiches
- Kult und Propaganda: Die Tempel des Neuen ReichesAufgrund ihres einzigartigen Motivs galten bislang einige Reliefs, die vor Jahrzehnten in den Tempelanlagen bei der Pyramide des Königs Unas in Sakkara (um 2300 v. Chr.) ausgegraben wurden, als authentische Darstellungen einer konkreten historischen Situation. Zu Skeletten abgemagert hocken Hungernde am Boden, apathisch ihrem nahen Tod ausgeliefert. Im Jahr 1994 wurden nahe dem Totentempel des Königs Sahure (um 2400 v. Chr.) in Abusir ganz ähnliche Reliefs gefunden, und es kann angesichts dieser einhundert Jahre älteren Darstellungen kein Zweifel sein, dass das Motiv der Hungernden ein ikonographischer Topos, ein fest gefügtes Bildmotiv ist, das jenseits aller geschichtlichen Gebundenheit einen Zustand der gefährdeten Welt darstellt. Das Bild gehört damit nicht in den Bereich der Geschichte, sondern der Kosmologie.Diese durch aktuelle Ausgrabungen gewonnene Einsicht ist von grundsätzlicher Bedeutung. Sie mahnt zur Vorsicht, ein modernes Realitätsverständnis auf Altägypten zu übertragen. Altägyptische Bilder sind nicht mit Fotoreportagen zu vergleichen, die ein Ereignis authentisch abzubilden vorgeben; und auch die moderne Fotoreportage kann ja letztlich keinen Anspruch auf Darstellung »der« historischen Wahrheit erheben, da sie das Geschehene auf einige wenige, bewusst gewählte oder zufällig zustandegekommene Bilder reduziert. Die Tempel Altägypytens sind in einer ihrer zahlreichen Funktionsebenen Medien der Geschichtsdarstellung. Auf den Wänden der Aufwege, die von den Taltempeln zu den Totentempeln an den Pyramiden des Alten Reiches führen, sind die Götter Ober- und Unterägyptens dargestellt, wie sie dem König die Nachbarvölker gefesselt zuführen - Außenpolitik mit den Mitteln der Bildmagie. Aus den wenigen Resten von Tempelreliefs des Mittleren Reiches - zum Beispiel beim Terrassentempel Mentuhoteps II. in Deir el-Bahari - lässt sich erschließen, dass Schlachtendarstellungen die Außenwände der Tempel bedeckten. Damit ist ein Bildprogramm vorgeprägt, das im Neuen Reich eine klare Zweiteilung erkennen lässt. Im Inneren der Tempel ist die Begegnung von Mensch und Gott, reduziert auf den König, der vor einer Gottheit opfert, der nahezu einzige - in unerschöpflicher Vielfalt variierte - Bildgegenstand. Die Architektur des Tempels liefert den kosmischen Rahmen dieser Begegnung. Die Decken der Tempelräume sind mit Sternen besetzt oder tragen in bunten Reliefs astronomische Darstellungen oder einfach Bilder von Geiern, Falken oder geflügelten Sonnenscheiben, die mit ihren Schwingen das Himmelsgewölbe umfangen. Die Sockelzonen der Wände tragen Pflanzenfriese und verkörpern die Vegetation des Niltals. Auch die Säulen sind Darstellungen der Natur zwischen Himmel und Erde. Ihre Kapitelle in Form von Palmblättern, Papyrusdolden, Lotosblüten oder Kompositgebilden aus verschiedenen Pflanzen machen die Säulen zu monumentalen Abbildern der Pflanzenwelt Ägyptens. In diesem architektonisch gestalteten kosmischen Raum entfaltet sich das Leben in Gestalt des Verkehrs zwischen König und Gott.Auf den Wänden der Vorhöfe und auf den Außenwänden dagegen zeigen die Reliefzyklen groß angelegte Schlachtenbilder. Sie unterscheiden sich von den Reliefzyklen der Innenräume der Tempel nicht nur durch ihre realitätsbezogene Thematik, sondern auch durch einen Stil, der an die Stelle der weihevollen Strenge der Opfer- und Anbetungsszenen dynamisch bewegte Handlungsabläufe setzt. Während sich diese Schlachtenbilder großräumig über weite Wandflächen entwickeln, sind die König-Gott-Szenen in streng voneinander abgegrenzte Bildfelder gegliedert. Die altehrwürdige Ordnung des Heiligen und die Spontaneität des Profanen ergänzen sich zu einer Gesamtschau der Welt.Die nördliche Außenwand des Säulensaals des Amuntempels von Karnak trägt einen Relieffries, in dem die Feldzüge des Königs Sethos I. (um 1300 v. Chr.) historisch exakt und mit vielen geographischen Details dargestellt sind; ein Feldzug gegen Palästina und Libanon, zwei Schlachten gegen Libyer und ein Feldzug gegen die Hethiter. Episodenhafte Details wie die Krokodile in den Bitterseen, die sich hinter Büschen versteckenden Beduinen und die wild gestikulierenden Belagerten auf den Wehrtürmen der Festungen in Palästina stehen in einem extremen thematischen und stilistischen Gegensatz zur ruhigen Feierlichkeit der Ritualszenen, die auf der anderen Seite derselben Mauer die Innenwände des Säulensaals und dessen Säulenschäfte bedecken.Eine der großen Schlachten der ägyptischen Geschichte, die Schlacht bei Kadesch in Westsyrien, in der Ramses II. Ende April 1285 v. Chr. mit etwa 20 000 Mann dem Hethiterkönig Muwatalli II. gegenübertrat, ist an verschiedenen Orten aufgezeichnet: auf der Frontseite des Pylons des Luxortempels, auf dem ersten und zweiten Pylon des Ramesseums, in zerstörten Reliefs in Karnak, auf der Außenwand des Tempels Ramses' II. in Abydos, in der großen Halle des Felsentempels von Abu Simbel und in heute nicht mehr erhaltenen Reliefs im Tempel von Derr (Nubien). Einerseits wird das weltgeschichtliche Ereignis durch die Orte seiner Aufzeichnung zur historischen Bestätigung und Aktualisierung des Auftrages an den König, durch sein politisches Wirken die Weltordnung zu sichern, andererseits findet die Schlacht durch ihre Aufzeichnung auf den Wänden des Heiligtums erst ihren endgültigen Abschluss und wird zum Teil eines göttlichen Heilsplanes.»Geschichte als Fest« hat der Ägyptologe Erik Hornung diese Einbindung realhistorischer Ereignisse in kultische Zusammenhänge genannt und damit eine griffige Formel gefunden, die allerdings eher die Lösung vom historischen Geschehen im Kult beschreibt, anstatt die geschichtliche Bedeutung des Kultes herauszustellen. Alles, was in den Bildern und Texten der Tempelwände dargestellt und beschrieben wird, ist für den Ägypter geschichtlich bedeutsame Wirklichkeit. Wenn Ramses III. bei der Errichtung seines Tempels in Medinet Habu nicht nur in der architektonischen Anlage, sondern auch im Bildprogramm das Vorbild des Ramesseums minutiös kopiert, maßt er sich weder die geschichtlichen Leistungen seines großen Vorfahren an noch macht er sich der Geschichtsfälschung schuldig, sondern er stellt seine Herrschaft in die Kontinuität des jahrtausendealten Königtums. Die Wiederholung des Bestehenden und des Geschehenen garantiert den Fortbestand der Welt. Das zyklische Geschichtsbild der Ägypter sieht die Gegenwart nicht im Sinne von Ursache und Wirkung mit der Vergangenheit verknüpft, sondern als die jederzeit mögliche Erneuerung des Alten.Für die Ausstattung der großen Tempel der Ramessidenzeit werden häufig Statuen längst vergangener Epochen verwendet. Mit den Inschriften des ramessidischen Bauherrn versehen, erscheinen sie uns als offenkundige Usurpationen, als Aneignung fremden Eigentums unter bewusster Tilgung aller Hinweise auf den ursprünglichen Besitzer. Viele dieser Statuen tragen jedoch nebeneinander die Namen verschiedener Herrscher, die nacheinander die Statuen genutzt haben. Was zunächst als Usurpation erscheint, erweist sich als geschichtsträchtiger Akt, als bewusster Rückgriff auf die Vergangenheit, als Wiederbelebung, als Aktualisierung bedeutungsträchtiger Monumente. Auf diese Weise treten Kolossalstatuen von Königen des Mittleren Reiches (um 2040 bis um 1650 v. Chr.) nach einem halben Jahrtausend eine lange Reise von ihrem ursprünglichen Aufstellungsort in Heliopolis nahe Kairo in die Ramsesstadt im Ostdelta an, um von dort nach weiteren drei Jahrhunderten noch weiter in den äußersten Nordosten des Nildeltas nach Tanis, die neue Hauptstadt des Reiches, verlagert zu werden. Durch diese Mehrfachnutzung bleiben die Statuen aktuell und gewinnen an historischer Autorität. Im gleichen Kontext ist die Aufmerksamkeit zu sehen, die die Pharaonen fast zwei Jahrtausende lang dem Reichstempel von Karnak gewidmet haben. Von seinem ältesten Kern, der um 2000 v. Chr. entstanden ist und von späterer Überbauung stets freigehalten wurde, wächst der Amuntempel von Karnak in alle vier Himmelsrichtungen. Sechs Pylone bilden schließlich den monumentalen Zugangsweg ins Tempelinnere, und vier weitere Pylone reihen sich zu einer zweiten Tempelachse, die den selbstständigen Tempel der Göttin Mut, der Gemahlin des Amun, in das theologische und architektonische Gesamtkonzept einbindet. So schaffen die Pharaonen im Ablauf der Dynastien einen sich beständig erweiternden und prachtvoller werdenden Zugang zum ehrwürdigen Heiligtum aus alter Zeit, dessen theologische Substanz und religiöse Strahlkraft unvermindert Bestand hat.König und Gott treten im Tempel in ein wechselseitig wirksames Verhältnis. Ohne die Fürsorge, die der König als Hoherpriester den Göttern in Opfer und Gebet täglich angedeihen lässt, sind diese nicht lebensfähig. Der König aber ist auf die Gnade der Götter angewiesen, die ihn mit Leben und mit den Insignien seiner Herrschaft beschenken. Die engste Verschmelzung gehen König und Gott in einer Sonderform der Tempelarchitektur des Neuen Reiches ein, in den Felstempeln, die Ramses II. außerhalb des ägyptischen Mutterlandes im nubischen Niltal errichten lässt. Deren größter, der Tempel Ramses' II. in Abu Simbel, drückt das dogmataische Konzept dieser Tempel am deutlichsten aus. Der König macht sich selbst zur Hauptgottheit des Heiligtums. Im Allerheiligsten sitzt er gleichrangig neben Ptah, Harachte und Amun, den Göttern der religiösen Zentren Memphis, Heliopolis und Theben - ein König als Gott unter Göttern.Prof. Dr. Dietrich Wildung
Universal-Lexikon. 2012.